Otto Meyer war ein Cousin von Helmut Meyer und hat den Einmarsch der Russen in Hitzdorf auf dem Hof von Helmut Meyer miterlebt, weil die Familie dort ihre Flucht unterbrechen musste.
Otto Meyer Rosko, den 21.01.1945
Unser Fluchtweg und meine Verschleppung
Es war Sonntag, der 21.01.45, fast Mitternacht, da kam der Ortsdiener und brachte die Meldung:
Fertigmachen zur Flucht. Abfahrt morgen Mittag 12.00 Uhr. (22.01.45)
In den frühen Abendstunden des Sonntags kamen schon die ersten Flüchtlinge aus den vorliegenden Dörfern. Etwa 10 Wagen parkten auf unserem Hof und übernachteten bei uns. Ich lag seit 4 Wochen krank im Bett an schwerer Rippenfellentzündung, welche ich mir als Leiter eines Schippeinsatzes vor Warschau zugezogen hatte.
Das Packen besorgten meine Frau und ihre Schwester Bertha sowie Schwiegervater, welcher am 01.01.45 seinen 81. Geburtstag noch in der Heimat feiern konnte. Ich war durch die Kreisbauernschaft U.K. gestellt. Noch krank zog ich mir den Pelz an, und so fuhren wir ins Ungewisse. Auch der Stellungsbefehl kam, sich zum Volkssturm zu stellen. Ich aber hatte eine Bescheinigung vom Arzt, dass ich von allen Diensten ½ Jahr befreit bin. Die Bescheinigung war auf ein recht kleines Papier geschrieben, aber sollte doch eine große Bedeutung haben. Rezept und Bescheinigung steckte ich mir außen in die kleine Jackett-Tasche. Die Russen haben mir alle Papiere abgenommen, aber die beiden kleinen Zettel haben sie nicht beachtet. Die Abfahrt verzögerte sich wegen der überfüllten und verstopften Straßen bis zum Abend.
Unsere Fahrt ging über Filehne nach Schloppe, Kr. Deutsch Krone, zu meinem Bruder Fritz. Hier machten wir die erste Rast und verblieben ungewollt 3 Tage, um noch 2 Pferde wegen der Straßenglätte scharf zu beschlagen.
Am 26.01.45 fuhren wir weiter und kamen abends zur Försterei Dittmarswalde (bei Regenthin). Hier übernachteten wir.
Morgens fuhren wir weiter bis Raakow, Kr. Arnswalde, und übernachteten auch hier.
Am 28.01.45 kamen wir auf dem väterlichen Erbhof meines Vaters, welcher laut Chronik schon über 200 Jahre den Namen Meyer trägt, in Hitzdorf, Kr. Arnswalde, an. Wir konnten unsere bepackten Wagen nicht mehr ganz entladen, weil die Russen schon im Dorf waren. Morgens, als es hell war, stellen wir fest, dass die Russen unsere Wagen geplündert hatten. Die Westen von den Anzügen haben sie nicht mitgenommen, sie lagen zerstreut auf dem Hof umher. Fleisch von 2 geschlachteten Schweinen war auch noch auf dem Wagen geblieben, das sie mit Benzin übergossen hatten. Das Fleisch war nun nicht mehr genießbar. Die Russen sorgten gleich für Hunger. Auch unsere beiden besten Pferde waren fort.
Am Abend sagte mein Vetter so nebenbei, ich könnte mich am Tage auf dem See, welcher bis in den Garten grenzt, in den Schilf- und Rohrhocken verstecken. Im Morgengrauen tat ich es auch und versteckte mich in der 5. oder 6. Hocke. Es war bei 9 Uhr, da erblickte ich die ersten Russen, ungefähr 8-10 Soldaten, welche mit aufgepflanztem Gewehr in die Hocken stachen, etwa 50 Meter entfernt von mir. Ich war in Angst und Schweiß gebadet, trotz des kalten Eises unter den Füßen. Aber Gottes Fügung lenkte. Die Soldaten gingen seeaufwärts. Hier spürte ich die erste Gotteslenkung. Hätten die Russen vorne angefangen, wäre ich am ersten Tag hier schon als Partisan gestorben. Aber Gott war mit gnädig. Als die Russen aus Sichtweite waren, kroch ich auf allen Vieren zurück ins Haus zur Familie.
Dann half ich meinem Vetter die Netze zu verstecken im Keller unter den Kartoffeln. Er sagte: wenn die Russen alles nehmen, aber alle Fische können sie nicht fangen aus einem See von über 80 Morgen.
Nun, wir waren gerade fertig mit dem Verstecken, da kamen die ersten Russen ins Haus. Das erste war, sie verlangten unsere Uhren, dann rissen sie uns die Trauringe von den Fingern, schossen mit Pistolen auf Soldatenbilder und suchten nach deutschen Soldaten. Aber zum größten Teil suchten sie nach Frauen und vergewaltigten sie ohne Altersunterschied, von Kindern bis zum Greisenalter, und oft vor unseren Augen.
Am 2. oder 3. Febr. 45 griffen ein paar deutsche Panzer von Arnswalde aus Hitzdorf an und zogen sich nach kurzer Zeit zurück. Es fielen einige Russen, sie lagen auf der Straße. Einen davon kannten wir, welcher uns die Uhren und Ringe abgenommen hatte. Uhren und Ringe hatte er aber nicht mehr bei sich. Nun lag er tot auf der Straße. Die Russen haben ihre Toten über Nacht fortgeholt.
Beim Nachbar vom Vetter waren auch Flüchtlinge. Sie waren vom Nachbardorf. An diesen Männern richteten die Russen ein furchtbares Blutbad an. Die Russen schickten 2 Familienväter nach draußen und sie mussten über den Hof laufen. Die Familien mussten zusehen, wie die Russen diese Männer wie Kaninchen abschossen. Es wurde gesagt, die Russen wären mit einer Panzerspitze von 3 Panzern hier im Versteck. Am Nachmittag haben wir die 3 Leichen von der Nachbarschaft auf dem Friedhof, welcher dicht am Dorf liegt, beerdigt. Die Leichen wurden in Leinwandtücher gewickelt und so beerdigt. Ihr Pastor Fischer (Löschau aus Regenthin), welcher auch als Flüchtling hier war, hat die Leichenrede auf dem Friedhof trotz Maschinengewehrgeknatter ohne Hemmungen vollzogen. Es gab hier in Hitzdorf mehrere Todesopfer. Ich sah zufällig, wie in der Nachbarschaft ein junges Mädchen bei ihrem Opa Schutz suchte. Dieses Drama spielte sich draußen auf der Haustreppe ab. Als das Mädchen sich fester an den Opa klammerte, schoss der Russe den Opa tot.
Auch ich kam mehrere Male in solche Situation. Auf der Flucht hatten wir eine Nichte von 15 Jahren mit, welche bei uns zu Besuch war. Auch über sie fielen die Russen oft her, und die Nichte kam in ihrer Angst immer zu mir. Die Russen sagten immer zu mir: du Pastor. Wie sie darauf kamen, weiß ich nicht. Ich nehme an, weil ich sonntagsmäßig angezogen war und die Dorfkirche fast nebenan stand. Am Ende wurde ich doch des Öfteren mitgenommen. Auch mir wurde mehrere Male mit Erschießen gedroht. Man führte mich, die Pistole an den Kopf gehalten, ins dunkle Zimmer. Meine Frau und Kinder folgten mir, weinten und flehten den Russen an, bis er von mir ließ. So haben die Kinder mir oft das Leben gerettet.
Fast 3 Wochen dauerte es, bis die Infanterie auf Bauernwagen in großen Kolonnen nachkam. Dann trieben sie uns alle aus den Häusern zu einem kleinen Bauernhof am Ende des Dorfes. Das Bauernhaus war mit Soldaten belegt, und wir Flüchtlinge wurden in Scheune, Stallungen und Schuppen untergebracht. Wir fanden in der Garage Unterkunft, dies alles bei 20 Grad Kälte.
Das Vieh wurde vom ganzen Dorf in eine große Koppel getrieben und musste so in Schnee und Kälte ausharren. Das Vieh brüllte Tag und Nacht, weil nicht gemolken wurde und es auch Hunger hatte. So bekam das Vieh den Krieg genauso zu spüren, wie wir Flüchtlinge. Auch wir bekamen diese Tage kein Essen. Später wurde das Vieh gen Osten getrieben. Auch unser Sohn Heinz kam als Elfjähriger dazu. Er sagte, der größte Teil sei an Seuche eingegangen.
Am 20.02.45 wurden wir wieder in die Häuser zurück geschickt. In der Nacht, als wir wieder in den Häusern waren, kam ein Russe und suchte nach Männern. Ich hatte mich tief ins Strohlager verkrochen, aber der Russe fand mich doch. Ich musste aufstehen und sollte mitkommen. Meine 4 Kinder umklammerten mich, weinten und schrien laut. Dieses Schauspiel dauerte ungefähr 5 Minuten. Der Soldat erhob seine Hand und gab ein Zeichen, mich wieder hinzulegen. Als es hell wurde, kam wieder ein Russe, ich sollte mitkommen.
Die Russen hatten in der Nacht im Nebenzimmer ihre Kommandantur eingerichtet. Als ich in das Zimmer eintrat, saß ein Offizier am Schreibtisch. Als er mich sah, machte er eine Handbewegung, ich sollte zurückgehen. Im Zimmer waren schon an 10 Personen, meine beiden Vettern Helmut Meyer und Wilhelm Luckow waren auch dabei. Diese Männer wurden nach 1 Stunde auf die Straße genau unter unser Fenster gebracht und bewacht. Hier mussten sie bis zum Abend warten. Dann marschierten sie mit ihnen zum Dorf raus zu einem kleinen Wäldchen. Hier soll man sie erschossen haben. Meine beiden Vettern sind bis heute verschollen, so muss man annehmen, dass es sich so zugetragen hat. Dass mir dieser Todesmarsch erspart blieb, hab ich wohl nur dem russischen Offizier zu verdanken, der mich nachts holen wollte.
Dieser Offizier muss bestimmt ein Herz für kleine Kinder gehabt haben. Eine andere Meinung kann ich mir nicht denken. Auch von vielen anderen Leuten wurde es mir bestätigt.
Tags darauf, am 21.02.45, bekamen wir den Befehl von der Front zurück zufahren. In Regenthin mussten wir in einer Scheune übernachten. Es war eine trostlose Nacht. Dauernd kamen Russen und suchten Frauen. Das laute Schreien der Frauen hörte die ganze Nacht nicht auf. Morgens bekamen wir den Bescheid, uns auf die Wagen zu setzen und auf weitere Befehle zu warten. Als wir fast eine Stunde gewartet hatten, kamen Soldaten und holten uns Männer vom Wagen.
Nun begann unsere Verschleppung.
Es war der 22.02.1945.
Nach 2 Stunden Fußmarsch wurden wir in eine Feldscheune gesperrt. In der Scheune saßen schon der Bürgermeister Klär aus meinem Nachbardorf und mehrere Bekannte, welche auch auf der Flucht waren. Als es zum Abend ging, mussten wir antreten, dann marschierten wir nach Woldenberg. Es war ein Hotel. Hier wurden wir in einen kleinen Raum gesperrt, wir waren ca. 50 Personen. Der Raum war so klein, dass man sich nicht setzen konnte, außerdem wurde er verschlossen. Spät abends kamen ein russischer Offizier und ein Pole als Dolmetscher, der fragte, ob sich jemand zum Stubenältesten melden wollte. Als sich keiner meldete, sagte mein Freund Klär, Meyer melde du dich. Ich lehnte dieses ab. Dann kam der Dolmetscher fast in meine Nähe und fragte: wo ist Meyer, herkommen. Ich musste mit ihm gehen zur Kommandantur. Hier bekam ich den Schlüssel und musste unterschreiben, dass ich ihn erhalten hatte und bekam den Auftrag, wenn jemand austreten musste, sollte ich ihn begleiten. Mir wurde gesagt, dass ich die Verantwortung hätte, und sollte jemand fliehen, würde man mich erschießen. Mit Angst und Schrecken führte ich meinen Auftrag aus. Am Morgen konnte ich dem russischen Koch eine Milchkanne Suppe für uns Gefangene abbetteln. Wir hatten schon 2 Tage gehungert.
Am zweiten Tag, dem 23.02.45 um 10 Uhr, mussten wir wieder antreten und im Fußmarsch ging es ab nach Friedeberg, ungefähr 20 km. Wer nicht mithalten konnte, wurde erschossen. Abends kamen wir in Friedeberg an und wurden wieder in einem Hotel untergebracht. Auch hier waren schon Verschleppte eingesperrt. Der Onkel Fritz meiner Frau befand sich auch unter ihnen.
Am dritten Tag, dem 24.02. ging es wieder im Fußmarsch weiter nach Landsberg/Warthe. Hier wurden wir außerhalb der Stadt in einer fast neuen Kaserne untergebracht. Aber man darf nicht fragen, wie sie innen aussah. Durch den starken Frost waren Wasserleitungen gefroren und Rohre geplatzt, Toiletten außer Betrieb. Der Urin stand in fast allen Räumen mehrere cm hoch. Die Bettmatratzen waren fast alle durch die Fenster auf den Kasernenhof geworfen worden. Auch der größte Teil der Bettgestelle lag draußen. In diesem stinkenden Kot wurden wir 11 Tage eingesperrt. Das Wasser zum Trinken wurde aus den Feuerlöschteichen geholt. Fast alle erkrankten an Ruhr. Furchtbare Schreckensszenen spielten sich hier in der Kaserne und auf dem Hof ab.
Am 2. Tag kam der Befehl: alle im Laufschritt auf den Kasernenhof und antreten. Polnische und russische Soldaten hatten sich auf den Treppenstufen aufgestellt und mit gezogenen Degen auf uns Verschleppte eingeschlagen. Von den Verwundeten lief das Blut die Treppe runter. Es gab auch Tote. Auf dem Kasernenhof mussten wir im Viereck antreten. Wir wurden alle nochmals gefilzt. Dann führten sie uns zwei Hitlerjungen vor. Der Dolmetscher erklärte uns, dass diese beiden Hitlerjungen über die Kasernenmauer geklettert waren und fliehen wollten. Als Abschreckmittel für uns alle wurden sie vor unseren Augen standrechtlich erschossen. Ihr Blut spritzte gegen die Kasernenmauer.
Diese beiden Kinder nahmen alles in einer so ruhigen und stillen Haltung auf, man sah nicht mal eine Träne in ihren Augen. Uns allen ging dieser Vorfall durch Mark und Bein.
Sie wurden beide an Ort und Stelle auf dem Kasernenhof vergraben. Als wir nach Landsberg kamen, war die Stadt noch fast unbeschädigt. Aber dann brannten fast jede Nacht ganze Straßen aus. Als wir Landsberg verließen, war die Stadt zu einer Ruine geworden.
Die Russen fingen gleich an, die großen Fabriken auszuräubern. Auch ich war einen Tag dazu verpflichtet. Wir mussten mit großen Hämmern Maschinen zerschlagen und alles auf LKW laden, die dann den Schrott zum Verschiffen in den Hafen brachten. Als wir drei Tage in der Kaserne waren, kamen ein russischer Major und mehrere Offiziere durch unsere Räume, spuckten vor uns aus und sagten: Germanski alles Schweine! Einer unserer Leute konnte etwas Russisch sprechen und zeigte auf den Fußboden. Aber die Russen blieben bei ihren Aussprüchen "Germanski Schweine". Eines Tages musste ich zur Schreibstube kommen und Listen zu je 50 Mann schreiben. Diese dienten zur Kontrolle, da immer 50 Mann in einen Wagon verladen werden sollten. Da ich zeitweise alleine war, habe ich von unserer Hundertschaft heimlich eine Liste eingesteckt, was für mich eine große Gefahr war. Aber ich habe die Liste unbeschadet bis nach Boostedt bringen können.
Als ich im Mai 1947 in Boostedt gelandet war, machte ich von meiner Liste eine Abschrift und schickte sie an das Rote Kreuz in Hamburg. Jetzt bekam ich viel, viel Post, auch aus der DDR. Die Anfragen der Angehörigen waren sehr vielseitig. Soweit mir die Namen der Verstorbenen bekannt waren, konnte ich eine eidesstattliche Todeserklärung abgeben und von der Polizei bescheinigen lassen. So hatte diese Bescheinigung Gültigkeit für die Hinterbliebenenrente. Diese mitgeführte Liste hatte mich bei der Entlassung am Ausgangstor in Todesangst versetzt. Der Schreck war groß, aber kurz. Es ging gnädig aus und hat vielen Familien Gewissheit gebracht.
Am 07.03.45 wurden wir nach Posen verladen und kamen ins Messedorf, früher Unterkünfte für Messegäste. Mein älterer und jüngerer Bruder kamen auch in dies Lager, während ich schon unterwegs war nach Russland. Die beiden trafen sich, der jüngere hatte gerade Geburtstag. Er wurde noch am gleichen Tag verladen, die Fahrt ging nach Charkow. Es war ein Glückwunsch und Abschied für immer. Nach 8 Wochen verstarb er im Lager Charkow.
Am 13.03.45 wurden wir in Posen in zweistöckige Güterwagons verladen, es ging nach Kadejewka.
Ich wurde zum Gruppenführer bestimmt für die 50 Personen im Wagon. Die Wagons waren auf der Fahrt verschlossen, und so musste auch die Notdurft dort verrichtet werden. Zu diesem Zweck war in den Fußboden ein großes Loch gebohrt. Ich habe die Personen immer bedauert, die gerade hier ihren Lagerplatz hatten. Wenn der Zug stand, wurde abgefragt, ob Tote im Wagon waren. Wenn ja, dann wurden sie am Ende des Bahnhofs in den Schnee gelegt. Registriert wurden sie nicht. Zum Essen gab es alle 2-3 Tage eine Milchkanne Suppe, zum Leben zu wenig. Viele starben schon auf der Hinfahrt. Für einen Wagon gab es 5 Brote, auch ein Brotmesser habe ich mitgekommen, um die Brote zu teilen. Einen Tag, als ich verantwortlich für die Verpflegung war, wurde ich schwer krank, ich bekam die Ruhr. Die Verpflegung gab ich zum Verteilen an meinen Freund Klär ab. Ich lag im zweiten Stock, plötzlich hörte ich von unten großen Krach. Mein Freund kam zu mir und sagte, Otto, es fehlt ein Brot, du hast nicht 5 Stück gebracht. Ich verneinte es, und schwer krank, wie ich war, stand ich auf und ging nach unten. Ich bestimmte sofort, dass keiner sein Brot essen sollte. Alle mussten ihr Brot zurückgeben und wir bauten es wieder zusammen. Tatsächlich fehlte ein Brot. Sofort ließ ich eine Haussuchung durchführen. Bei der 34. Person fanden sie das Brot, und ohne dass ich bestimmte, wurde diese Person von den anderen feste verdroschen.
Am 22.03.45 kamen wir in Kadejewka an. Wir wurden in massiven Häusern untergebracht, die früher russische Grubenarbeiter bewohnt hatten. In den ersten 14 Tagen schliefen wir auf dem nackten Zementboden, dann erst wurden Bretter geschnitten. Kadejewka liegt in einer Steppengegend, das Holz wurde per Bahn geliefert. Von diesen frischen nassen Brettern wurden Schlafpritschen gebaut, und wir haben sie mit unseren Körpern getrocknet.
Wir bekamen am Tag nur zweimal zu essen, morgens um 6.00 Uhr und abends um 5.00 Uhr, sowie 500 g Maisbrot. Viele aßen ihr Brot schon beim Abholen auf. Das Sterben war hier groß, jeder Tag hier bedeutete tot zu sein. Morgens gab es meistens Graupensuppe, die aus Wasser, wenigen Graupen und ein paar Tropfen Sonnenblumenöl bestand, oder wir bekamen Sauerkraut, welches hier die Hauptnahrung ist. Es wird hier in großen Silos gehalten. Kartoffeln und Fleisch gab es gar nicht. Kartoffeln werden hier nicht angebaut, die Bevölkerung isst nur Sauerkraut. Unser Lager wurde von Flintenweibern bewacht, sie waren viel schlechter als die alten Männer.
Unser erster Arbeitstag war Karfreitag, der 30.03.45.
Der erste Tote war der Onkel meiner Frau, Fritz Hahn, er starb am 03.04.45. Er wurde als einziger am 05.04.45 von uns auf dem Friedhof beerdigt, die anderen Toten kamen alle in ein Massengrab, welches gleich hinter dem Friedhof angelegt war. Alle Toten wurden nackt ohne Sarg beerdigt. Ich wurde als Leiter der Beerdigungsgruppe von 6 Mann bestimmt und bekam einen Dauerausweis, hiermit konnte ich ohne Wachbegleitung die Beerdigungen ausführen. Wir hatten täglich 3-6 Leichen zu beerdigen. Der Friedhof war fast einen Kilometer vom Lager entfernt, und die Leichen mussten in einem Holzkasten dahin getragen werden, ein Ziehwagen stand uns nicht zur Verfügung. Auch gab es keine Stahlspaten, nur Blechspaten. Der Friedhof lag dicht hinter einem kleinen Dorf von 8–10 Häusern. Mit den Hausbesitzern hatten wir uns schnell angefreundet und wir bekamen Einlass ins Haus, aber nur, wenn ihre Kinder nicht da waren. Die alten Russen waren nett zu uns und sie gaben uns auch etwas zu essen, manchmal sogar ein Ei. Auch sie lebten fast nur von Sauerkraut, aber Brot hatten sie mehr als wir, sie bekamen es auch jeden Morgen von einer Ausgabestelle. Wenn die Kinder zu Hause waren, bewegten sie die Vorhänge, das war für uns das Zeichen, nicht einzutreten.
Der 1. und 2. Mai sind hohe Feiertage für die Russen. Auch wir hatten beide Tage frei. Am 1. Mai nachmittags mussten wir alle raustreten und uns auf den großen freien Platz setzen. Dann kam ein Major, setzt sich zu uns und ordnete an, dass alle tüchtig singen sollten, auch das Hitlerlied mussten wir auf sein Drängen singen. Auch bekamen wir für die beiden Feiertage ein kleines Weizenbrot. Die Russen haben den Sieg über Hitler nochmals tüchtig gefeiert, und so haben sie uns wohl die kleine Geste zukommen lassen.
Als wir hier im Lager ankamen, waren dort schon 500 Rumänien-Deutsche, alles Frauen im Alter von 15 bis 60, untergebracht. Solange ich Beerdigungsleiter war, wurden alle Toten, die im Lager starben, im Büro in ein Buch eingetragen und von mir unterschrieben. Ich habe mich dort verewigt. Anfang August wurde ich plötzlich vom Beerdigungskommando abgelöst, ohne mir zu sagen warum. Ich habe viel nachgefragt, aber es nie erfahren. Ich nehme an, dass unsere Hausbesuche bekannt geworden sind. Ein Flintenweib hat mich abgelöst und die Gruppe begleitet. Nun waren die Besuche in den Häusern zu Ende.
Ich wurde nun Brigadier und einer Baugruppe von 20 Mann zugeteilt. Unsere Arbeit wurde monatlich mit 120 bis 160 Rubel bezahlt. Viele wurden bei der Auszahlung betrogen. Obwohl eine Gruppe von Frauen und Männern gleichviel gearbeitet hatte, bekamen sie doch unterschiedlichen Lohn. Unser Essen mussten wir jeden Abend bezahlen, ohne Bezahlung gab es kein Essen. Es kam auch vor, dass manche überhaupt keinen Monatslohn bekamen, obwohl sie gearbeitet hatten. Anfangs, als noch nicht so viele davon betroffen waren, haben wir sie gemeinschaftlich mit Geld unterstützt, damit sie sich ihr Essen kaufen konnten. Dieser Zustand wurde aber immer schlimmer, immer mehr Kollegen wurden davon betroffen. Auch zog sich die Auszahlung über 8-14 Tage hin, so dass wir am Ende alle kein Geld mehr hatten. Es kam zum Sitzstreik, wir gingen alle nicht zur Arbeit. Es entstand auch bei den Russen große Unruhe. Sie sperrten Brigadiere in Erdbunker. Polizei erschien, sogar der oberste Chef kam. Wir aber forderten erst Geld, damit wir essen kaufen konnten. Gegen Mittag sagten sie zu, dass wir am Abend Geld bekommen würden. Nach dieser Zusage gingen wir nachmittags wieder zur Arbeit.
Ich möchte nicht verschweigen, wie tief traurig und schmerzlich es für uns Beerdigungsleute war, wenn Vater oder Sohn, Mutter oder Tochter der Beerdigung ihrer Angehörigen beiwohnten, was ja erlaubt war. Es war für die Leute schlimm, mit anzusehen, wie ihre Angehörigen unter fremde Erde kamen, so nackt und bloß wie bei ihrer Geburt.
Im Juli kam im Lager das Gespräch auf, dass eine Kommission von Moskau kommen sollte und feststellen sollte, warum so viele im Lager starben. Und es kam auch Anfang August eine Ärztekommission. Jetzt beginnt das, was ich am Anfang meiner Niederschrift andeutete, das Wunder oder die Gotteslenkung mit den beiden kleinen Krankenzetteln.
Es ergab sich folgendes: Am Tag, als die Moskau-Kommission hier war, bekam ich kurz vor Feierabend vom Natschelnik den Auftrag, Bretter zu einem Häuserblock zu bringen. Ich suchte hierfür 4 Männer aus, welche die Bretter zu dem Block trugen, wo die Kommission von Moskau war. Unbewusst aus Langeweile ging ich mit den Männern mit. Als wir die Bretter abgelegt hatten, kam gerade unser deutscher Lagerkommandant aus dem Block heraus. Er sprach mit uns und sagte, die Ärztekommission hat 85 Personen aufgeschrieben, die sollen bald entlassen werden. Da zeigte ich ihm meine beiden Krankenzettel, und der Kommandant gab sie mir zurück und sagte zu mir, lauf schnell nach oben, die Kommission ist noch dort. Ich hatte nichts Eiligeres zu tun und lief los. Als ich die Tür öffnete, saßen die 3 Ärztinnen hinter einem langen Tisch, unsere Lagerärztin in der Mitte. Sie schrie mich an, was ich noch wolle. Da sprang plötzlich eine Ärztin aus Moskau auf, nahm mir meine 2 Zettel ab und las mir auf Deutsch vor, was darauf stand, von allen Diensten ein halbes Jahr befreit. Sie fragte auch auf Deutsch, wo ich noch Schmerzen hätte, und ich antwortete, an der linken Seite, es knisterte wie Pergamentpapier. Sie befühlte meine linke Brustseite und sagte zu unserer Lagerärztin, dass sie mich aufschreiben soll. Verspätet kam ich ins Lager zurück, neugierig warteten meine anderen Kollegen schon.
Ich erzählte ihnen, dass sie mich aufgeschrieben hätten, aber ob ich bei der Heimfahrt mit dabei sein würde, wusste ich nicht. Die Tage vergingen. Am 09.10.45 erschall lautes Wecken und die Namen der Heimkehrer wurden aufgerufen, auch mein Name fiel, obwohl als letzter aufgeschrieben. So hatten mir diese beiden Krankenzettel im letzen Augenblick zur Heimfahrt verholfen, was für mich ein Wunder war. Es war Gotteslenkung, die sich offenbarte, und es waren viele Umwege nötig gewesen, um ans rechte Ziel zu kommen. Als nun auch mein Name gefallen war, sprang ich aus meiner Schlafpritsche heraus. Auch meine Kollegen standen auf, sie umarmten mich, hielten mich fest und weinten bitterlich. Unsere bissige Köchin, welche uns mit ihrer Wassersuppe so betrogen hatte, zeigte sich zu unserem Abschied auch mal von einer guten Seite, sie verabschiedete uns mit einer dicken Graupensuppe.
Nun marschierten wir zum Bahnhof. Es waren auch von einem anderen Lager Heimfahrer dort. Es wurde Marschverpflegung ausgeteilt, jeder bekam 2 Salzheringe aus einer Tonne und 2 Stück eingewickelte Bonbons. Wir warteten auf unseren Zug, aber leider kam kein Transportzug für uns. Zum Abend kam ein Major und sagte, dass der Transportzug ausgefallen wäre. Wir sollten alle wieder in unsere Lager zurück gehen und in Wartestellung bleiben. An Schadenfreude fehlte es den Kollegen nicht, sie sagten auch, ihr kommt doch nicht nach Hause. Wir lagen 3 Tage in Wartestellung, am 4. Tag mussten wir wieder mitarbeiten.
Es vergingen 14 Tage, dann wurden wir wieder nachts laut geweckt. Alle Heimfahrer sollten sich schnell zur Heimfahrt fertig machen. Dieses Mal hatten sie es eilig, wir mussten alle schnell auf die LKW. Als wir am Tor ankamen, wurde es verschlossen. Wir mussten absteigen, und während wir beim ersten Mal am Tor nicht kontrolliert worden waren, mussten wir jetzt zur Kontrolle in Reihen antreten und 2 Schritte auseinander gehen. Jetzt kam ich in Todesangst, denn man durfte keine Papiere, Listen oder Notizen mit Heim nehmen. In dieser Todesangst schickte mir Gott einen Engel, es war ein irdischer Mensch, ein russischer Brigadier, mit dem ich des Öfteren mit seinen Leuten zusammen gearbeitet hatte. Du Meyer niks haben, auf den Wagen, sagte er. Wie leichten Herzens ich auf den Wagen stieg, kann sich keiner denken, der nicht selbst solche Gefahr mitgemacht, oder in solche gekommen ist. Hätte mich ein Flintenweib gefilzt, wäre ich bestimmt ein Todesopfer geworden, oder hätte eine langjährige Strafe erhalten.
Der Transportzug stand schon da, als wir auf dem Bahnhof ankamen. In aller Eile mussten wir einsteigen, und der Zug fuhr ab. Wir wurden nicht mehr bewacht, jeder konnte sich frei bewegen. Unsere Heimfahrt dauerte fast 14 Tage. Wir fuhren über die Ostbeskiden, und im Luftkurort Zakopani hielt unser Zug mehrere Stunden. Ich habe dort mit mehreren Kollegen für deutsches Geld eine Mittagssuppe gegessen.
Die Fahrt ging weiter über Kreuzberg, Breslau, Dresden und dann landeten wir in Pirna in Sachsen an der Elbe.
Hier wurden wir ausgeladen. Da unser Aufnahmelager noch nicht desinfiziert war, mussten wir am Bahnhofsplatz 2 Tage und Nächte am 5. und 06.11.45 draußen unter freiem Himmel lagern. Es wurden große Feuer gemacht, aber wir froren doch. Am Morgen wurden wir zur Entlausung und zum Baden gebracht. Fast verhungerte, abgemagerte Skelette und zerlumpte Gestalten bewegten sich durch die Stadt zur Badeanstalt. Ein Großteil der Bewohner der Stadt stand am Straßenrand, und man sah so viele weinende Leute.
Am 10.11.45 ging es nach Gera in Thüringen, und am 11.11.45 nach Bad Lobenstein und am 14.11.45 in die Quarantäne Hirschberg.
Auch hier wurde ich wieder als Stubenältester bestimmt, und hier trug sich ein ähnlicher Fall zu, wie im Wagon auf der Fahrt nach Kadejewka. Ich bekam hier in der Quarantäne furchtbare Zahnschmerzen. Während dieser Zeit durfte keiner die Quarantäne verlassen, aber unser Hausarzt hatte Erbarmen mit mir, und ich konnte zum Zahnarzt gehen.
An diesem Tag, als ich zum Zahnarzt ging, war gerade Lebensmittelausgabe. Butter, Zucker und Wurst, diese 3 Teile musste ich als Stubenältester auswiegen. Ich bestimmte einen guten zuverlässigen Mann für diesen Tag. Als ich gegen Abend am Fenster unseres Zimmers vorbei kam, muss man mich wohl gesehen haben, denn es brach ein großer Krach aus, warum ich an diesem Tag fortgegangen war. Ich sagte ihnen, dass ich die Erlaubnis vom Chef hatte. Mein Vertreter wurde beschuldigt, er hätte ungerecht geteilt, was dieser aber bestritt. Da die Kollegen mir 2 Tage lang Vorwürfe machten, legte ich mein Amt nieder. Mit ihrem neu ernannten Mann ging es nur 8 Tage gut, dann war der Krach da. Auch dieser legte sein Amt nieder. Nun wollte keiner dieses Amt übernehmen. Da kam die Meute wieder zu mir, sie baten mich, ich möchte das Amt wieder annehmen. Ich tat es nicht. Sie wandten sich nun an den Chef des Hauses. Dieser redete und bat so lange, bis ich annahm. So war es mein Schicksal, dass ich während der gesamten Zeit meiner Verschleppung für Mitgefangene Verantwortung zu tragen hatte. Es begann in der Feldscheune und im Hotel in Woldenberg und endete in der Quarantäne von Hirschberg Saale.
Die Entlassung aus der Quarantäne ging folgender Maßen vor sich: Wer in der Ostzone Verwandte oder Bekannte hatte, konnte zu ihnen fahren, wer diese nicht hatte, wurde für einen Monat zur Erholung bei Bauernfamilien untergebracht, dafür sorgte der Kreis.
Auch ich kam zu einer Bauernfamilie nach Dittersdorf, Kreis Schleiz, in Thüringen. Die Bauern wurden vom Kreis bezahlt.
Die Personen, welche nach 4 Wochen keine Unterkunft fanden, wurden dem Arbeitsamt überwiesen. Durch eine Annonce in der Zeitung suchte eine Bäuerin einen Wirtschaftsführer. Ich meldete mich und bekam auch diese Stelle in Göschitz, Kreis Schleiz. Hier war ich nun vom 17.2.1946 bis 17.12 1946, Aufgabe wegen Heirat.
Am 17.12.1946 kam ich über die Zonengrenze bei Bad Harzburg in den Westen und nach Hartwigswalde bei Neumünster zu meiner Schwester und Schwager Utecht.
Am 01.05.1947 landete ich in Boostedt.
Ich möchte noch über einen Zufall berichten. Die Welt ist so groß und doch so klein. Im Jahre 1948 saß im Wartezimmer von Dr. Pflugrad eine junge Frau, die mir sehr bekannt vorkam, sie aber nicht kannte. Sie war allein im Zimmer, ich wollte sie nicht gleich ansprechen, aber ihr Gesicht ließ mir keine Ruhe. Nach einer langen Weile sprach ich sie an, sie sagte mir, dass sie keine Boostedterin sei und von weit her komme. In Gedanken tippte ich gleich auf Kadejewka. Im weiteren Gespräch mit ihr stellte sich tatsächlich heraus, dass sie eine von den 500 rumäniendeutschen Frauen war, die schon vor uns im Lager waren. Sie sagte, dass sie erst 1948 entlassen worden sind. Sie hat sich hier mit Martin Hutter verheiratet und wohnt in Großenaspe.
Ich möchte nun mit meinem Bericht schließen und zum Ausdruck bringen, wie Gott mich gnädig durch meine dunklen Todesschatten geführt hat.
(Anmerkung: Bis zum 22.02.1945 sind etliche zeitliche Differenzen in seinen Angaben im Vergleich mit den Berichten anderer Hitzdorfer und meiner Familie.)